Urbane Räume, Parks und Passagen
[I. Negativ]
Keine Gesichter, verehrte Damen und Herren, keine Personen; keine Gestalten, ja nicht einmal Schemen: Das ästhetische Grundproblem der Nähe von Kunst und ihren Inhalten zur Warenwelt, das nicht zufällig erstmals anhand der Fotografie, und zwar zeitgleich mit ihrem Entstehen, als dringliche Frage formuliert wird, hat Matthias Haun für sich sehr offensichtlich entschieden. Nichts an seinen Parks und Passagen würde den empirisch-wissenschaftlich erforschten und lange in der Praxis erprobten Standards der Werbepsychologie genügen: Dass es darum nicht geht, und dass es nicht einmal darum geht, unsere medial erzeugten Bilder von Wirklichkeit ergänzend fortzuschreiben oder auch nur zu kommentieren, lässt sich deutlicher nicht zeigen, als mit den hier gezeigten Fotografien. Das Falscheste jedenfalls, was über sie gesagt werden könnte, wäre – selbst als Lob gemeint – sie als überwältigend zu bezeichnen.
Die ganze Reihe verzichtet darauf, ihren Betrachter anzuspringen, fast sogar ihn anzusprechen: Das betrifft auch jene Bilder, die heute nicht im Café Grün zu sehen sind, und sogar jene, die noch lange nicht aufgenommen, ja nicht einmal geplant und deren Motive noch nicht entdeckt sind. Es gäbe durchaus Möglichkeiten – zumindest die Leser von Floristen-Fachmagazinen wissen das – Löcher in Rhododendron-Hecken fotografisch zu dramatisieren. Und auch die Spannungen zwischen 70er-Jahre Wandschmuck und 90er-Jahre Ameublement im Brill-Tunnel hätten durchaus spektakuläre Inszenierungen erlaubt.
Aber nichts da: Matthias Haun belässt die Designkontraste als leichte Akzente, die blauen trivial-Op-Art Kreise und der Cola-Automat, die roten Punkte, die hellblauen Kacheln und der – das ist doch 80er-Jahre Style! –
orangene Mülleimer, denn, nur als leichte Akzente, am Rande der Wahrnehmbarkeit, entsprechen sie im Bild dem Blick des alltäglich Durcheilenden, dem die unterschiedlichen Stile längst schon symbiotisch scheinen.
Ebenso sicher: Nicht eines der Bürgerpark-Bilder wird je von „Mein schöner Garten“ abgedruckt. Keine der Aufnahmen jedenfalls erreicht einen höheren Lautstärkepegel als die letzten beiden, das auf sonnendurchflutet-azurblauem himmlischem Hintergrund (mit Wolkenformationen) beschneite Geäst, die nächtliche Stefani-Brücke mit städtisch beleuchtetem Herbstlaub.
Zwei Schlussakkorde sind das, die auch wiederum als Auftakt gelesen werden könnten: die Doppelung bereits verrät das Provisorische des Endes – keine Reihe ist abgeschlossen. Es sei denn in Gott.
Die Passage, der Übergang: Ein solches Thema lässt sich nicht als Schrei artikulieren. Und das begründet nicht nur die asketische Art der Abbildungen, sondern ist mit Sicherheit auch umgekehrt, eines der wichtigsten Auswahlkriterien für das Motiv.
[II. Positiv]
Das ist nicht ungefährlich. Denn das allgemeine Rauschen hat zugenommen, auf allen Kanälen, und die Zahl der Kanäle steigt: Erst die Stärke des Signals garantiert ihm Aufmerksamkeit. Und gesehen werden sollen die Lichtbilder: Wozu sie sonst herstellen. Und vor allem wozu sie sonst ausstellen?
Aber vielleicht ist diese Frage falsch. Denn Kunst hat immer auch eine konservierende Funktion. Nicht einmal in erster Linie für sich selbst – es gibt ja auch Kunstwerke die gleichsam in ihrer Selbstzerstörung bestehen – sondern für Schwindendes: Architektur der 50er bis 70er Jahre um etwas Greifbares zu benennen, aber auch verdrängte Formen und ungewollte abstrakte Inhalte. Es ist geradezu ihre Aufgabe, dort zu flüstern, wo der Schrei zur vorherrschenden Kommunikationsform geworden ist.
In einem der enzyklopädischen Fragmente schreibt Novalis: Die Hand wird beim Maler Sitz eines Instinkts, […] der Fuß beim Tänzer, das Gesicht beim Schauspieler und so fort. Das und so fort gilt zweifellos den noch nicht erfundenen Künsten. Das Organ der Kunstfotografie aber ist das Auge. Matthias Haun lädt mit seinen Bildern, die ob ihrer natürlichen Ausleuchtung besser als Fotografiken, oder als Fotogemälde bezeichnet würden, dazu ein, seinen Blick – nicht zu besprechen. Sondern ihm zu entsprechen, ihn zu teilen: Etwa mit ihm zu entdecken, dass überhaupt Parks und Passagen zu Zeichen des von uns täglich benutzten städtischen Raumes geworden sind. Zu bemerken also, dass sie eine gewisse Allgemeingültigkeit, eine Übersetzbarkeit gewonnen haben. Und sich im Umkehrschluss der vitale Wandel dieses Begriffs, des städtischen Raumes exemplarisch in ihnen einschreibt: Etwa, weil sich in urbanen Grünanlagen den gartenarchitektonisch geplanten Sichtachsen zuwiderlaufende Durchblicke eröffnen, dass hier die Grenzen zwischen Natur und Kultur nicht durch die einmalige Anlage oder Setzung festgesteckt wurden. Sondern sich stetig neu gegeneinander behaupten müssen.
Dass außerdem, einem Naturgesetz folgend, die von der Betriebsamkeit hinterlassenen Spuren im Brill-Tunnel die ihn durchquerende Masse präsenter machen und in ihrer Fülle genauer darstellen, als deren notgedrungen ausschnitthaftes Abbild es je könnte: Denn, ebenso wenig wie auch nur eines von ihnen eine Person zeigen würde, ist auch nur einer dieser Fotogemälde menschenleer.
Das ist ein absolut privilegierter Blick: Und es gehört zu seiner Noblesse, sich nicht aufzudrängen. Die Kühnheit besteht darin ihn anzubieten: Denn Fotograf und Betrachter des Fotos haben verwechselbare Perspektiven. Sie sind, beide, gleichermaßen, Herr über die Aussichten. Das zu sein – und zu bleiben – hat der Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné seinem Auftraggeber aufgegeben.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Anwesende, ein königliches Schauen.
Eine Rede von Benno Schirrmeister